Hochakrobatisch beginnt das
Chelyabinsk Theater of Contemporary Dance auf Kampnagel seinen Auftritt.
Paarweise deklinieren die Tänzer auf beeindruckendem technischen Niveau die
zeitgenössischen Tanzmuster durch, als gelte es, gleich zum Auftakt klar zu
stellen, dass hinter dem Ural noch lange nicht Tanzprovinz ist. Im Gegenteil:
Die Choreografin Olga Pona hat der fernen russischen Industriestadt Chelyabinsk
den Ruf einer Tanzmetropole eingebracht.
Seit einigen Jahren feiert sie mit ihrer 1992 gegründeten Compagnie auch auf
internationalen Bühnen Erfolge. Thema ihrer Stücke ist immer wieder der Alltag
im postkommunistischen Russland. Bis heute ein Stadium des Übergangs, wenn man
ihrer choreografischen Deutung folgt. Erinnerungen an das Vergangene drängen
sich in den Vordergrund einer energiegeladenen Aufbruchsstimmung.
Der Widerspruch spiegelt sich
schon in der beruflichen Karriere der Choreografin selbst, die als
Traktoringenieurin begann, bevor sie ein Zweitstudium als Tanzlehrerin
absolvierte. Sechs Tänzer und drei Tänzerinnen zählt ihre Compagnie. Wobei die
jungen Frauen den Männern in athletischer Körperkraft und Dynamik in nichts
nachstehen. Der Anfang der Choreografie "The other side of the river" lässt an
die sportive Ästhetik der Brasilianerin Deborah Colker denken, wären da nicht
die poetischen, stimmungsvoll ausgeleuchteten Momente, die sich still und ein
wenig melancholisch über den virtuosen Aktionismus legen.
Abwechslung bringt vor allem das wilde musikalische Potpourri aus
geheimnisvollen Elektronikklängen, beschwingten Sixties-Sounds, aus Jazz und
Tango. Bäuchlings auf Bügelbrettern rollen zwei Männer in traditioneller
Arbeiterkluft herein, zerren unter dem Bezug neue Kleider hervor, die sie mit
dampfendem Eisen glätten - wobei sie kunstvoll wabernde Nebelschwaden erzeugen.
Ein Mädchen vergnügt sich mal mit dem einen, mal mit dem anderen.
Nett und naiv aber durchaus unterhaltsam erzählt Pona ihre Geschichten. Ein
bisschen Kitsch darf auch sein. Dann rieselt leise der Schnee vom dem
Bühnenhimmel. Seit Olga Pona zuletzt 2003 beim Festival Polyzentral auf
Kampnagel gastierte, hat sich ihre Bewegungssprache enorm entwickelt, ist sehr
viel komplexer aber auch um einiges glatter geworden. Beeindruckend ist, wie die
Tänzer Tempo und Konzentration ohne den geringsten Konditionsabfall durchhalten.
Riskante Hebungen und Schleuderfiguren werden von Verfolgungsjagden auf
Rollbrettern abgelöst. Mitunter gelingt es den Tänzern sogar, das Glücksgefühl
vom Fliegen zu vermitteln. In "Waiting", dem zweiten Stück des Abends, springen
die Tänzerinnen sogar an Seilen auf die Bühne, hängen für Momente schwebend in
der Luft, bevor sie zu Boden gehen. Wilde Engel, denen es nicht gelingt, ihre
Männer zu beeindrucken. Die halten sich lieber an die Babouschkas, die umhüllt
hinter milchiger Scheibe hocken. Das Oberteil über den Kopf gezogen, lassen sie
sich barbusig zu einem sinnlichen Tanz verführen. Am Schluss stellen sich alle
gemeinsam in wallender Bauernkleidung zu einem Bild aus der Vergangenheit auf.
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